Es könnte Herbst sein, es müsste aber Paris sein, vielleicht der Boulevard Saint-Germain. Mit quietschenden Reifen hält ein Peugeot 403 Cabriolet vor dem Café „Les Deux Magots“. Jean-Paul springt aus dem Wagen und schlendert mit einer Zigarette im Mundwinkel zum Café. Dort ist eine Menge junger Leute versammelt, die alle gebannt einem Redner zuhören.

Die Fantasie geht mit mir durch, ich befand mich in der Vorbereitung eines eigentlich unverdächtigen Seminars zu Designtheorie und bin aus eigenem Interesse auf Abwegen. Ich gelange zu einer Schlüsselfigur der Medienkritik des letzten Jahrhunderts: Guy Debord, Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale (SI), und Autor von „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967).

Situationismus und Dérive stehen heute wieder hoch im Kurs, leben wir doch in Zeiten, in denen die Simulation von Realität durch KI einen ungeheuren und durchaus beunruhigenden Fortschritt sieht.

Was ist das Spektakel bei Debord?

Der Begriff kommt aus dem Lateinisch, von spectaculum = Schauspiel, Anblick, Vorführung, spectare = sehen, betrachten und natürlich dem altfranzösischen spectacle (Bedeutung: öffentliche Vorstellung, Bühnenszene).

Mit Firefly erzeugte Filmszene

Debord kritisiert, dass das Spektakel die unmittelbare Erfahrung durch Bilder, Zeichen und Simulationen ersetzt. Er kritisiert eine entfremdete, passive Konsumgesellschaft in der Repräsentation echte Erfahrung ersetzt, und Menschen passive Konsumenten des Spektakels sind.

„Das Spektakel ist das kapitalistisch produzierte Abbild der Welt.“ (These 34)

oder

Das Spektakel entfremdet das Individuum von der Umwelt.“ (These 30).

Gesellschaftliche Beziehungen erscheinen nicht mehr unmittelbar, sondern als etwas, das durch Medien, Waren und Inszenierungen vermittelt wird.

Das Spektakel ist somit nicht nur eine Erscheinung der Massenmedien, sondern ein umfassendes soziales und ökonomisches System. Debord versteht es als die „herrschende Ordnung der Dinge“, in der alles Sichtbare zugleich zum Instrument der Kontrolle und der Entfremdung wird.

Ich behaupte das wir diese Zustände, die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts noch ungewohnt waren, heute als Normalität leben, und somit einer der Prophezeiungen Debords als Beweis dienen.

Um diesem monströsen Spektakel nicht im ersten Schritt auf den Leim zu gehen habe ich mir den Originaltext in Buchform organisiert. Eine reale Erfahrung im Gegensatz zur „Abbild-Welt“?

Durchaus sperrig und mit dem Pathos der revolutionären 68er stellt Debord satte 221 Thesen vor. Einige klingen nach, viele sind mir unverständlich geblieben. Debord zitiert zwischen seinen Themenblöcken schonmal Hegel und auch Sun Tse (Die Kunst des Krieges). Eigentlich selbst ziemlich „spektakulär” aufgetragen, aber wie Debord im Vorwort klarstellt: „[…] mit der Absicht geschrieben, […] der spektakulären Gesellschaft zu schaden.“

Die neunte These ließ mich sofort an den aktuell nicht abreißenden Strom von Absurditäten aus den USA denken:

„In der Welt des wirklich Umgekehrten ist das Wahre ein Moment des Falschen.“

Verwirrender aber zugleich treffender kann es nicht ausgedrückt werden.

Der Haupttext der Thesen ist eine Momentaufnahme und Anklage, Handlungsempfehlungen sind selbstständig abzuleiten. Konkreter wird Debord in seinem erst 1988 verfassten Kommentar.  Ergänzend sollte seine Theorie des „dérive“ betrachtet werden, mit ihr soll die Welt des Spektakels durch reale Erfahrung unterwandert werden. Dérive sucht das Wahre im gelebten, unmittelbaren Moment, jenseits der Repräsentation. Stichworte: Zweckfreiheit statt Ökonomisierung, Rekonstruktion von individuellen Beziehungen statt Entfremdung, Bewegung im Kollektiv statt Absonderung des Einzelnen.

Suche in der höchsten Form des Spektakels.

Nach der Annäherung an das Thema habe ich ein Experiment durchgeführt, und den modernsten Advokaten des Spektakels befragt. Ich habe ChatGPT gefragt:

„Ist ChatGPT Teil des Spektakels?“

Es folgt die von mir nachträglich kommentierte Antwort.

ChatGPT: Das ist eine hervorragende und tiefgehende Frage – und ja, man kann mit gutem Grund sagen:

Ja, ChatGPT kann als Teil des Spektakels im Sinne von Guy Debord verstanden werden.

Aber das ist nicht die ganze Antwort – und es hängt stark davon ab, wie ChatGPT genutzt wird und in welchem gesellschaftlichen Rahmen.

1. Repräsentation statt Erfahrung

Debord kritisiert, dass das Spektakel die unmittelbare Erfahrung durch Bilder, Zeichen und Simulationen ersetzt.

ChatGPT produziert sprachliche Repräsentationen der Welt – nicht die Welt selbst.

→ Beispiel: Anstatt ein echtes Gespräch zu führen, konsumierst du eine textbasierte Simulation von Dialog.

(Danke für die Erinnerung. Etwas beschämt lesen wir weiter …)

2. Passivität & Konsum

Debord zufolge verwandelt das Spektakel Menschen in konsumierende Zuschauer.

ChatGPT kann – wie soziale Medien oder Netflix – zum Werkzeug passiven Informationskonsums werden:

Antworten werden vorgefertigt,

Eigenrecherche wird reduziert,

kritisches Denken kann abgestumpft werden.

→ Das passt genau zu Debords Bild vom veräußerten Subjekt, das „zuschaut, wie es lebt“.

(Ich vergleiche das gerne mit der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bei Kant. Hier ließe sich die Diskussion um den Homo Deus nach Harari anschließen, mit seiner Frage, ob die nächste Stufe der künstlichen Intelligenz aufgrund ihrer Überlegenheit gottgleich sein wird.)

3. Technologisierung des Sozialen

Debord warnt vor der Mediatisierung aller sozialen Beziehungen.

Auch ChatGPT ist Teil einer Infrastruktur, die Beziehungen, Gespräche, Bildung und Arbeit in digitale, datengesteuerte Prozesse verwandelt.

→ Das Subjekt kommuniziert nicht mehr mit anderen Subjekten, sondern mit maschinell erzeugten Inhalten – ein weiteres Glied im Spektakel.

(Handele ich also subversiv oder bin ich dem Spektakel (kurz S) wieder auf den Leim gegangen? Diese Frage stelle ich bewusst hier, und nicht dem Advokaten des S.

🛠️ Aber: Es gibt eine Gegenbewegung – je nach Gebrauch

(obligatorische Icons dürfen nicht fehlen, sie sind der „Signature Style“ des modernen S, übrigens ein interessanter eigener Diskurs in Bezug auf die spektakuläre Gesellschaft und ihre Ausdrucksformen, diese sind schließlich Teil einer Semiotik des S)

Debord hätte auch gefragt: Wie wird das Medium eingesetzt? Denn das Spektakel ist keine Technikfrage, sondern eine Frage der sozialen Praxis.

➤ ChatGPT als Werkzeug gegen das Spektakel?

Wenn du es nutzt, um zu verstehen, zu hinterfragen, zu entlarven, kann es dir helfen, das Spektakel zu durchschauen.

(wieso spricht ChatGPT hier plötzlich in der dritten Person von sich selbst? Eine Distanzierung von sich selbst, oder handelt es sich um den Versuch einer schamhaften Verschleierung der eigenen Verstrickung?)

Es kann dich auf Debords Texte, kritische Theorien, widerständiges Denken hinweisen – also Werkzeuge bereitstellen zur Bewusstwerdung. Es kann sogar dérive-artige Ideen vorschlagen, oder neue Bedeutungen von Räumen eröffnen.

→ In diesem Sinn könnte ChatGPT Teil einer Aufklärung gegen das Spektakel sein – aber nur, wenn du aktiv bleibst und nicht zum bloßen Empfänger wirst.

🎯 Fazit:

ChatGPT ist potenziell Teil des Spektakels – es hängt aber davon ab, ob du es als Werkzeug der Selbstermächtigung oder der Selbstentfremdung nutzt.

(Ich staunte nicht schlecht über die passende und auf den ersten Blick wasserdichte Darstellung. Hier gibt es offenbar viel kluges Material mit dem dieses LLM „gefüttert“, wurde. Doch es kommt noch besser, denn jetzt übernimmt ChatGPT noch selbst das Erbe Debords und ergänzt)

Oder in Debords Sprache:

»Das Spektakel ist das Gegenteil des Dialogs. Wo aber der Dialog beginnt – dort beginnt der Bruch mit dem Spektakel.«

(Der erste Teil dieses Satzes stammt aus These 18 „Das Spektakel ist das Gegenteil des Dialogs.“ Und steht wirklich so in Die Gesellschaft des Spektakels, deutsche Version. Der Dialog ist nicht der Dialog mit ChatGPT, sondern die echten Dialoge, die durch seine Hilfestellung entstehen können.)

Wenn du willst, können wir daraus gemeinsam eine kleine These oder eine Debatte für ein Seminar oder ein Essay entwickeln.

Die Vorschläge habe ich mir anzeigen lassen, und dann sofort beschlossen lieber mit einem selbst formulierten Ansatz zu starten. Der hier vorliegende Text ist bis auf die Antwort von ChatGPT von mir verfasst.

Mein Fazit (sans KI)

Zwei Sätze finde ich besonders wertvoll, denn sie stellen eine Blaupause zur aktuellen Diskussion um künstliche Intelligenz.

1. „Denn das Spektakel ist keine Technikfrage, sondern eine Frage der sozialen Praxis.”

So steht es auch um KI, die Teil und Agent des Spektakels ist. Wie wir KI nutzen (bisher nur ein weiteres Werkzeug und nicht mehr), ist eine Frage unserer sozialen Praxis (Handlung und Haltung). Sind wir unmündige Nutzer, die sich nicht die Mühe machen Information zu hinterfragen und eigenes Wissen zu verknüpfen, oder sind wir frei? Eine schlichte Metapher dazu: „Fahren wir mit dem Auto zum 5 Minuten entfernten Bäcker nur weil wir es können, oder verlassen wir uns auf unsere eigenen Möglichkeiten?“ Diese Metapher ist auch mit moralischen Entscheidungen verbunden, und enthält Fragen unserer sozialen Praxis.

Zurück zu unserem Umgang mit den Agenten des Spektakels ergibt sich eine klare Handlungsempfehlung um nicht die Fähigkeit zum freien Denken (oder der selbstständigen Fortbewegung unseres Körpers) zu verlieren:

2. „ […] aber nur, wenn du aktiv bleibst und nicht zum bloßen Empfänger wirst.“

Richtig, es bleibt unbequem. Ein weiteres Werkzeug im Netz des Spektakels, in dem wir schon lange vor Debord gefangen sind, bedeutet nicht das alles einfacher wird. Systeme zu verstehen, Abhängigkeiten und Gefahren zu erkennen wird nur immer komplexer.

Wie komme ich jetzt zurück zum Boulevard Saint-Germain? Die 68er liegen vor meiner Zeit, bedeutungsschwer und mystisch. Viele Forderungen konnten umgesetzt werden, vieles muss erneut erkämpft werden. Dazugelernt hat, wie Debord bereits in den 80ern attestierte, insbesondere die Gesellschaft des Spektakels. „Durch ihre eigene Bewegung, die zu studieren sich niemand mehr die Mühe machte, hat sie seitdem mit erstaunlichen Leistungen gezeigt, dass ihre tatsächliche Natur die war, die ich aufgezeigt hatte.“

Er hat sich erfolgreich in das Spektakel eingeschlichen, schließlich hat ein Doppelagent des Spektakels mir geholfen diesen Text zu schreiben. Vielleicht ist Debords Gesellschaft ohne Spektakel eine Utopie, aber auch das wäre kein Grund zur Trauer. Mir fällt ein Zitat von Fernando Birri (ein Erneuerer des lateinamerikanischen Films) ein, das in diesem Kontext von nichts übertroffen werden kann:

»Die Utopie steht am Horizont. Ich nähere mich zwei Schritte, und sie entfernt sich zwei Schritte. Ich mache zehn weitere Schritte, und sie entfernt sich erneut um zehn Schritte. Soviel ich auch gehe, ich werde sie nie erreichen … Wofür ist sie also gut, die Utopie?
Dafür dient sie: Um zu gehen.«

Justus Wunschik – Berlin, Oktober 2025

Literatur

Debord, G. (2025). Die Gesellschaft des Spektakels (3. Aufl.). Edition TIAMAT

Harari, Y. (2018). Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen. C.H.Beck

Fernando Birri, zitiert von Eduardo Galeano: Galeano, E. (1993). Las palabras andantes (Ventana sobre la utopía). Buenos Aires: Catálogos / Siglo XXI

Der vorliegende Text enthält mit ChatGPT erzeugte Inhalte.